„Maigrets erste Untersuchung“ als Lesung bei Satchmo’s

Links, da sitzt einer der sieht aus wie er. Wie Maigret, Jules Maigret, der größte Pariser Kommissar. Pfeife im Mund, ein dunkles Gewand, ein wenig griesgrämig blickend. Einer in den spärlich besetzten Zuschauerreihen bei Uncle Satchmo’s. Gespannte, aufmerksame Stille liegt in der Luft, dann kommen die zwei Schauspieler aus Berlin mitten durch das Publikum hindurch auf die Bühne. Uwe Neumann und Anette Daugardt geben „Maigrets erste Untersuchung“, eine Leseperformance, die mehr Publikumsresonanz verdient hätte.

Daugardt und Neumann sitzen auf der Bühne, ungeschminkt, in Alltagsklamotten, neben sich zwei Bistrotische, diverse Utensilien darauf, jeder das Buch in der Hand. Reduktion als Stilmittel. Und so beginnen sie den Roman von Georges Simenon zu lesen und zu leben, gewissenhaft und logisch, ohne Brüche, auf 90 Minuten heruntergekürzt. Dies ist nicht der erste Maigret-Roman von Simenon, der zu den meistgelesensten Autoren der Welt zählt. „Maigrets erste Untersuchung“ entstand 1948, 18 Jahre nach dem ersten. Und so ist dieser Maigret noch jünger als der durch Verfilmungen bekannt gewordene Kommissar mit der Pfeife und mürrischem Gesicht. Hier ist Maigret noch Sekretär des Kommissars Maxim Lebret, ein Anfänger also, ein unsicherer und ängstlicher noch dazu.

Dabei ist dieser erste Fall ein Politikum. Denn gelöst werden darf er nicht, zu reich ist die Pariser Gesellschaft um 1910. Und da Geld die Welt regiert, unterschlägt Maigrets Chef höchstpersönlich die Ermittlungen, die Wahrheit wird frisiert, die Mörderin wurde laufen gelassen. Maigret nun also bekommt in seinem Kommissariat Besuch von einem Flötisten, der gehört haben will wie im Hause der reichen Familie Gendreau-Balthazar jemand erschossen worden ist. Beweise dafür gibt es zunächst nicht, doch Maigret glaubt dem einzigen Zeugen und erhält von seinem Chef, selbst befreundet mit der betroffenen Familie, die Erlaubnis, verdeckt zu ermitteln. Es geht ums Geld und um Status. Der verstorbene Hector Balthazar hat in seinem Testament seine Enkelin Lise reich bedacht. Deren Bruder Richard ist darüber wenig erfreut, in der Familie entstehen grobe Zwistigkeiten. Zudem wünscht man sich eine Erhebung in den Adelsstand, weshalb Lise einen verarmten Grafen heiraten soll, der wiederum im Rotlicht-Milieu zuhause ist und sich dem Wunsch verweigert – sein Todesurteil.

Jedem das seine

Uwe Neumann ist Maigret und Erzähler in einem. Mit Brauen, die er über die Augen wulstet, mit Stirnfalten, und manchmal auch mit kindlich offenem, naiv überraschtem Lächeln verleiht er seinem Jules Maigret Leben. Schön, wie er mit der Verunsicherung des Kommissars spielt, und sich die Selbstironie des jungen Ermittlers zu eigen macht. Neben Neumann schlüpft Anette Daugardt in all die anderen Rollen des Romans, flott, präzise und mit viel Liebe zum Detail. Dabei bedient sie sich ihrer variationsreichen Stimme und kleiner Hilfsmittel: Jede Figur bekommt ein Accessoire. Maigrets Chef etwa hält immer eine Zigarette in der Hand, der Flötist schnupft seine ständig triefende Nase in ein Taschentuch, das laszive Dienstmädchen Germaine hält ein Likörgläschen in der Hand, der Werkstattbesitzer Dee-Dee einen Autoschlüssel, der Wirt einen Zahnstocher – Wiedererkennungswert fürs Publikum. Die Dialoge wurden so gekürzt, dass sie sich wie Theaterszenen in die Erzählung einfügen.

Am Ende: Hach, wie ist einem dieser Maigret ans Herz gewachsen, und Paris und alle anderen Figuren, selbst die Gauner. Und wie traurig, dass das Geld gewonnen hat und nicht die Gerechtigkeit. Maigret erhält eine neue Chance als Kommissar in einem anderen Pariser Quartier. Und wie wir wissen, durfte er von nun an viele Fälle lösen.

 

Simone Schatz